Im Interview: Jil Holtbernd, Referentin Nachhaltige Beschaffung bei FEMNET e.V.*
* Der Verein FEMNET e.V. – feministische Perspektiven auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, fordert Frauenrechte in Anlehnung an internationale Menschenrechtsstandards und auf der Basis der Gleichberechtigung von Frauen und Männern ein. Die Förderung der Entwicklungszusammenarbeit erfolgt hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung, insbesondere der Geschlechtergerechtigkeit, der menschenwürdigen Arbeit sowie des nachhaltigen Konsums.
Warum ist die Beschaffung von Dienst- und Berufskleidung oft alles andere als fair, Frau Holtbernd?
Das Bewusstsein für die Bedeutung nachhaltiger Textilbeschaffung ist noch nicht überall angekommen – leider auch nicht im geschäftlichen Bereich. Das indirekte Beschaffungsvolumen, zu dem ja auch die Dienstbekleidung gehört, beträgt zwischen 15 und 30 Prozent. Wohlfahrtsverbände, Kommunen, öffentliche Verwaltungen und Kirchen beschaffen viele Textilien, damit verfügen sie über eine erhebliche Lenkungsmöglichkeit und Marktmacht. Sie auszuüben, ist meist keine Frage des Wollens, sondern eine Frage des Wissens um die globalen, textilen Lieferketten.
Welche Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen sind in den globalen Lieferketten an der Tagesordnung?
Wir bei FEMNET setzen uns vor allem mit der Konfektion, also der Arbeit in Textilfabriken im globalen Süden auseinander. Vorneweg muss man sagen, dass die Strukturen und Produktionsverhältnisse in der Berufsbekleidungsindustrie denen der klassischen Modeindustrie ähneln. Die Lieferketten sind komplex und intransparent und wir finden ökologische und soziale Probleme wie Zwangsarbeit, Diskriminierung und Misshandlungen auf allen Stufen.
Sehr lange Arbeitszeiten von über zehn Stunden sind an der Tagesordnung. Überstunden werden nicht freiwillig geleistet, sondern die Näher:innen haben keine Wahl, wenn sie ihren Job nicht verlieren möchten. Es werden oft keine Löhne gezahlt, die das Überleben der Familie sichern, auch wenn defacto ein Mindestlohn gilt. Hinzu kommt die fehlende Organisationsfreiheit, das heißt, Gewerkschaftsarbeit wird aktiv unterbunden und die Arbeiter:innen können nicht für ihre Rechte einstehen.
Nicht zuletzt mangelt es in vielen Fällen am Gesundheits- und Arbeitsschutz. Zwar hat sich seit dem Einsturz der Textilfabrik im bangladeschischen Rana Plaza einiges getan, aber es gibt immer wieder Berichte über Brände und verschlossene Fluchtwege. Die schwere Arbeit hinterlässt körperliche Spuren. Aber, wenn ich zehn Stunden an der Nähmaschine sitze, habe ich nicht die Zeit zum Arzt zu gehen oder bekomme nicht frei. Selten sind die Menschen krankenversichert und oft gibt es keine Lohnfortzahlung. Schlimmer noch, viele Näher:innen befinden sich in einer informellen Beschäftigung, sprich, sie haben oft sehr kurze oder gar keine Arbeitsverträge und nähen zuhause in sehr prekären Verhältnissen.
Warum bezahlen vor allem Frauen einen hohen Preis für unsere Jagd nach immer billigerer Mode?
Die Textilbranche ist ein sehr weiblich geprägter Niedriglohnsektor. In Bangladesch beträgt der Frauenanteil dort bis zu 80 Prozent. Frauen haben durch die Mehrfachbelastung in Form von Lohn- und Care-Arbeit sowie patriarchiale Strukturen weniger Zugang zu Bildung. Deswegen gehen sie häufig Jobs nach, die kein hohes Ausbildungsniveau erfordern und werden dementsprechend niedrig entlohnt.
Frauen in der Textil- und Bekleidungsindustrie leiden oft unter starken Diskriminierungsstrukturen. Die Aufseher In den Textilfabriken sind meist Männer, da kann es zu sexueller Gewalt und verbaler Diskriminierung kommen. Auch mangelnde Frauenhygiene und fehlender Mutterschutz in der Schwangerschaft sind ein Riesenproblem. Toilettengänge werden selbst während der Regel nur unzureichend gestattet, was die Gefahr von Infektionen erhöht. Schwangere Frauen müssen fürchten, ihre Arbeit zu verlieren, wenn sie eine Familie gründen. Heimarbeit zu Hungerlöhnen, ohne jede soziale und rechtliche Absicherung, bleibt dann die einzige Chance, Geld zu verdienen.
Welches sind die wichtigsten sozialen Standards, auf die bei der nachhaltigen Beschaffung geachtet werden sollte?
Die Kernarbeitsnormen der International Labor Organization ILO geben eine erste Orientierung, aber wenn ich auf nachhaltige Beschaffung umstellen möchte, brauche ich eine unabhängige Prüfung, ob diese Normen auch eingehalten werden. Hier können Textilsiegel helfen. Um sich in der Vielzahl an Siegeln zurechtzufinden, empfehlen wir die Seite Siegelklarheit, eine Initiative des BMZ* und der GIZ**. Die einzelnen Standards werden durch externe Gutachter:innen evaluiert.
Auch der Kompass Nachhaltigkeit von Engagement Global hilft, öffentliche Vergabeprozesse nachhaltiger zu gestalten. Dieses Tool zeigt klar auf, wie in allen Beschaffungsphasen von der Marktanalyse bis hin zum Vertragsmonitoring nachhaltig agiert werden kann. Zudem finden sich auf der Webseite erfolgreiche Praxisbeispiele sowie die wichtigsten Gütezeichen für die relevanten Beschaffungsbereiche.
* Das BMZBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
** Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH
Wie kann FEMNET Wohlfahrtsverbände unterstützen, die sozial verantwortliche Beschaffung von Dienstkleidung in den Einkauf integrieren wollen?
Unser Projekt „Fair wear works“ möchte Wohlfahrtsverbände im Speziellen und die Zielgruppe des Gesundheitswesens allgemein bei nachhaltigem Textileinkauf unterstützen. Dies geschieht zum Beispiel durch vielfältige Bildungsangebote wie bedarfsorientierte Workshops. Ab nächstem Jahr bieten wir zudem eine Webseminarreihe an, die sich an die Verantwortlichen für den Textileinkauf richtet und Themen wie Kreislaufwirtschaft oder die Auseinandersetzung mit dem Lieferkettengesetz tiefergehend behandeln wird.
Dürfen wir noch länger wegsehen?
Nein, wir dürfen auf keinen Fall länger wegsehen. Gerade Kommunen und Wohlfahrtsverbände haben einen besonderen Auftrag und verpflichten sich dem Schutz der Menschen und der Umwelt. Da können wir nicht an den Ländergrenzen haltmachen. Oft steht die Angst vor Mehrkosten im Raum. Aber der billige Einkauf funktioniert ja nur, weil wir die sozialen und ökologischen Kosten in den Globalen Süden verlagern. Diese Mehrkosten, die wir zu verantworten haben, müssen ehrlich und transparent eingepreist werden. Bei großen Einkäufen ist der Faktor Nachhaltigkeit gar kein großer Preistreiber.
Zum Titelfoto: © Jil Holtbernd